Das Exemplar Annette Kolb Author
- libro nuevo2019, ISBN: 2940149011773
Zwei Monate aus Mariclées seltsamem Leben seien hier preisgegeben und der Vorhang weit davon zurückgeschlagen; dann falle er wieder zu, und sie mag wieder ihres Weges ziehen. … Más…
Zwei Monate aus Mariclées seltsamem Leben seien hier preisgegeben und der Vorhang weit davon zurückgeschlagen; dann falle er wieder zu, und sie mag wieder ihres Weges ziehen. Man nannte sie Mariclée. Niemand wußte, wer sie zuerst so nannte, aber keiner nannte sie anders. Und es war bezeichnend, denn sie hatte etwas Namenloses, Unzuständiges, wie es auch stets ihr Los war, mit gesellschaftlich denkbar verschiedensten Leuten in Kontakt zu kommen und selbst keinem einzigen Kreis anzugehören. Dies führte so weit zurück, als sie sich erinnern konnte, und fügte sich so allerorts, als müßte es so sein.Denn in unserem Leben stehen wir wie inmitten einer Landschaft, und mögen unsere Schicksale noch so bereichert wiederkehren, sie weisen doch einen höchst gleichartigen Charakter auf; wie etwa ein Gletscher nicht auf einer Düne steht: diese Art von Uniformität, meine ich, trägt unser Leben zur Schau.Und das ihre glich einer Bergstraße. Wo nur ein Ausblick lag, da würde sie stehen; da zog sich ihr Weg hin, doch lenkte er nie bis ins gelobte Land hinein. Nur eines anzuführen: Mariclée kam leicht in Palästen zu wohnen, wie die Steinnelke gern an steilen Anhängen wächst. Aber sie hatte kein Geld. An ihr war alles wie hingeflogen und wieder abgerissen: ihr Verhältnis zum Leben, zur Natur, zu den Menschen, zu sich selbst. Sie stand sich nicht sehr nahe. Und darum gehörte sie zu jenen heute nicht mehr seltenen Menschen, von denen behauptet wird, daß sie nicht lieben können.Mariclée hatte viele Freunde und dachte sie diese zu einer Garbe zusammengestellt, so hielt sie eine Probe der verschiedensten, seltensten Blumen, die’s heute gibt. Denn auch dies war ihr Geschick, daß sie spät oder früh, dauernd oder flüchtig auf ihrem Wege blühten. Darum stand sie zu ihnen wie ein Kunstsammler zu seinen Raritäten: daher ihr Spleen, vielleicht auch ihre Blasiertheit. Denn wer die Menschen ihrem Wert nach liebt, der schätzt den einen gegen den anderen ab, und das schrankenlose Aufgehen in einem einzigen vermag er nicht mehr.Doch auch die besten Auktionen haben ihre Glanznummern. Und plötzlich war es über sie gekommen, daß sie im August des Jahres 1909 nach London fuhr, um nach Jahren ein Wunderexemplar ihrer Sammlung wieder vorzunehmen. Allein es fing gleich damit an, daß sie einander verfehlten. Das „Exemplar“ — es soll nicht anders heißen in dieser halb leidenschaftlichen, halb kuriosen Geschichte — hatte sich eingefunden, aber Mariclée hatte sich unbegreiflicherweise im Datum geirrt und traf erst am folgenden Morgen ein. Jetzt mußte sie zehn Tage bleiben, wenn sie ihn erwarten wollte.Es war ihr erster Abend. Wie mit einem gelben, welken Schleier umwob die Hitze den Himmel und den träumerischen Park von St. James. Über die Brücke gebeugt, hingen ihre Blicke an den Wasserflächen und tauchten unter wie gebannt. Die Schwäne glitten, nie emporblickend, dahin, und so schwermütig und weit vibrierte da die müde Stunde, so riesig waren ihre Schauer, daß Mariclée sich hastig losriß und zur Ablenkung, und weil sie London überblicken wollte, das Dach des ersten Motorwagens bestieg, der ihr entgegenfuhr.Allein er trug sie unversehens in eine entsetzliche Welt. Denn jene selbe Gleichförmigkeit, die ihr an den glatten, großfenstrigen Häusern der Reichen so würdig, stilvoll und motiviert erschien, wie schmachvoll ist sie in den Slums! Und Sklaven waren das, die hier mit gemordeter Phantasie, ja, wie Geblendete in solch unerhörten Häusern zu wohnen einwilligten, an denen nicht ein Fenster, nicht eine Tür von der des Nachbarn sich unterschied, sondern die in ihrer schmählichen Gleichförmigkeit wie Sträflinge dastanden, ihre meilenlangen, niedrigen Reihen verzweifelt ausgestreckt, Händeringende, Lebendig-Begrabene, Bilder der Hölle!In dieser Woche sollten viele Leute an Hitze sterben, ihr aber war am nächsten Morgen, als sei London eine riesengroße gelbe Schlange, die sie unbarmherzig immer fester an sich drücken und ersticken wollte. Aber es war etwas anderes: es hatte sie so hart und unvorbereitet getroffen, das Exemplar verfehlt zu haben, daß sie, um den Schlag aufzuhalten, sich sagte, sie spüre ihn nicht, die Verzögerung passe ihr sogar. Nun rächte sich die Lüge. Was wollte sie in London und was nützte ihr jetzt die zierliche, nahe an Westminster gelegene Wohnung, die ihr von Freunden überlassen worden war? Selbst die Sonne konnte es ihr nicht mehr recht machen, Digital Content>E-books>Fiction>Fiction>Fiction, Lost Leaf Publications Digital >16<